Der Wecker klingelte um 6 Uhr. Zum Glück hatten wir die Rucksäcke schon am Vorabend größtenteils gepackt, sodass wir morgens nicht viel Zeit brauchten. Um 6:40 Uhr machten wir uns zu Fuß auf zur nächsten größeren Kreuzung, um ein Taxi zu rufen – wie gewohnt über Alipay. Was sonst?
Nur vier Minuten später war das Taxi da, und wir fuhren – diesmal tatsächlich zum richtigen Bahnhof. Ein kleiner Erfolg, der sich fast wie ein Wunder anfühlte. Das Navi hatte das erste Mal auf anhieb recht. Auch hier mussten wir erst zwei Sicherheitskontrollen und eine Passkontrolle über uns ergehen lassen, bevor wir überhaupt das Bahnhofsgebäude betreten durften. Wie bei einem Hochsicherheitsgefängnis.
Da wir noch etwa eine Stunde Zeit hatten, machten wir uns auf die Suche nach Frühstück. Die Auswahl war, gelinde gesagt, enttäuschend. Außer McDonald’s und Starbucks gab es praktisch nichts. Außer unmengen an getrockneten Fleisch. Also holten wir zwei Joghurts, einen Kaffee – und für Kosi einen Frühstücksburger vom McDonald’s.
Um 8:15 Uhr durften wir endlich zu unserem Gate. Natürlich nicht, ohne noch einmal den Reisepass vorzuzeigen. Es wirkt langsam wie ein schlechter Scherz.
Im Zug saßen Kosi und ich getrennt. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, neben einer Gruppe chinesischer Damen zu sitzen, die scheinbar keinerlei Gespür für ihre Umgebung hatten. Zwei neben mir, drei davor, drei dahinter – und alle damit beschäftigt, ständig die Sitzplätze zu wechseln, herumzustehen, sich im Gang zu versammeln und mich dabei komplett zu ignorieren. Bzw einfach meinen Sitzplatz fast schon miteinzunehmen. Eine setzte sich kurzzeitig auf meinen Schoß. Ja, wirklich. Als ich sie entsetzt und ungläubig ansah, sprang sie immerhin erschrocken wieder auf.
Doch damit nicht genug: wenig später fingen sie an, hartgekochte Eier und Mandarinen zu verteilen – inklusive großzügiger Verteilung der Eierschalen im gesamten Bereich. Und das nicht etwa heimlich oder diskret, sondern als wäre das hier ihr Wohnzimmer oder Esszimmer. Die eine lehnte sich auf mich, eine andere stellte sich immer wieder direkt vor meine Beine, obwohl ihr Sitzplatz deutlich weiter vorne war. Es war, als wären alle anderen Luft für sie. Völlig ignoriert, komplett übergangen. Ich versuchte wirklich, ruhig zu bleiben, aber meine Nerven war nach einer Stunde schon reichlich an die Grenzen gebracht worden.
Wenn ihr also irgendwann nichts mehr von uns hört – wir wurden vielleicht festgenommen. Irgendwann kann man nicht mehr ruhig bleiben. Ich halte wirklich nichts von Gewalt, aber heute wurde mein Geduldsfaden auf die härteste Probe gestellt, die man sich vorstellen kann.
Die Zugfahrt sollte insgesamt sechs Stunden dauern. Schön.
Nach etwa 3,5 Stunden passierte dann das: Beim Einsteigen hatten schon viele ihre Probleme damit, das Gepäck ordentlich zu verstauen. Koffer, Taschen, Kartons – alles wurde wahllos irgendwie in die oberen Gepäckablagen gequetscht. Die Kontrolleure mussten mehrfach eingreifen, aber geholfen hat das offensichtlich wenig. Während der Fahrt wurden die Gepäckstücke ständig runter- und wieder hochgehoben, um irgendetwas Essbares herauszuholen. Es war ein ständiges Kommen und Gehen.
Dann – plötzlich – ein lauter Knall. Ein Koffer hatte sich gelöst und fiel mit voller Wucht einer Frau zwei Reihen vor mir direkt ins Gesicht, während sie schlief. Ihre Nase begann sofort zu bluten, sie war völlig aufgelöst. Und das Verhalten meiner Sitznachbarinnen? (Deren Koffer war das nämlich) Unfassbar. Eine nahm den Koffer auf, als wäre das Gepäck das eigentliche Opfer. Eine andere überprüfte ernsthaft, ob der Koffer eine Delle abbekommen hatte. Keine einzige Entschuldigung. Kein Mitgefühl. Kein Wort an die Frau.
Also stand ich auf, ging zu ihr und fragte, ob ich ihr helfen kann. Ich brachte sie zur Toilette, half ihr, das Blut abzuwischen. Keiner der anderen Fahrgäste hat auch nur mit der Wimper gezuckt. Es haben alle gesehen – und keiner hat reagiert. Die Menschlichkeit? Hier absolut nicht vorhanden.
Ob Kosi irgendwas davon mitbekommen hat? Unwahrscheinlich. Der Glückspilz sitzt fünf Reihen weiter hinten auf einem Doppelplatz, neben einem älteren Herrn – beide schlafen seelenruhig seit Fahrtbeginn. Und ich beneide ihn gerade mehr denn je.
Zwischendrin holten wir uns noch etwas Reis als Stärkung und um 15 Uhr kamen wir dann endlich in Shanghai an. Auch hier wieder das Phänomen der Menschen: sie stehen 10 Minuten bevor der Zug einfährt auf, um so schnell wie es geht ihre Rucksäcke jnd Koffer zu holen. Sobald dann der Zug stehenbleibt, rennen sie so schnell es geht raus. Nur um dann wieder bei der Rolltreppe zu stehen… Wir verstehen die ganze Hektik nicht.
Eigentlich wollten wir dann mit dem Taxi zur Unterkunft, doch die Schlange dafür war eindeutig zu lang. Deshalb ging‘s weiter mit der U-Bahn. Auch hier war wiedermal nichts von einer Hilfsbereitschaft erkennbar. Während Kosi und ich mit je einem Rucksack am Rücken und einem vorne stehend Platz nahmen, sahen uns alle anderen dabei einfach nur zu. Kein Einziger stand auf oder bot uns den Platz an. Obwohl keiner der sitzenden Personen eine Tasche oder einen Koffer hatte… So standen wir dann 33 Minuten in der Bahn. Dann noch 10 Minuten zu Fuß und ENDLICH kamen wir bei der Unterkunft an.
Wir luden nur schnell die Rucksäcke ab und gingen in die Stadt, um uns ein Essen zu holen. Wie gewohnt, waren wir nicht alleine dort. Deshalb nur schnell ein paar einfache Fladenbrote vom Straßenstand und wieder zurück zur Unterkunft.
Für mich gab’s dann noch ein entspanntes Videotelefonat mit Verena (tat gut, der Welt hier kurz zu entfliehen), während Kosi Serien ansah.
- Videotelefonat - nicht über Whatsapp möglich
- Instagram funktioniert nur teilweise
- Snapchat funktioniert komischerweise sehr gut
- es geht weder Google noch Safari
- es gibt kein Netflix oder Amazon Prime
Wir fanden dann (bzw. Vali - danke dafür!) fand einen Streaminganbieter für China. Dort können wir zumindest am Abend zum Kopfabschalten einen Film ansehen.
Für alle anderen, falls wir uns über Whatsapp nicht sofort melden, wundert euch nicht.
Achja und während ich die Zeilen hier schreibe, wurde mein Handy auch einmal schwarz und auf dem Bildschirm stand nur „Time out.“ Nach 20 Sekunden funktionierte es wieder. Dasselbe beim iPad. Nur Kosis Handy funktioniert seit der Einreise in China überhaupt nicht mehr. Warum, wissen wir nicht genau.
Für uns stand am Abend nichts Spannendes mehr an. Wir ruhen uns noch aus, um morgen in voller Frische Shanghai erleben zu dürfen.
Bussi Baba,
Kosanni
PS: Bilder gibt es heute leider keine, weil wir nicht mehr so viel Datenvolumen haben.
Kommentar hinzufügen
Kommentare